Mund auf!

Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen!” 

Das ist der Monatsspruch vom Monat Mai aus Sprüche 31,8. Und er hört sich zur Begrüßung des Wonnemonats so ganz unpassend an, finde ich. Um so dankbarer bin ich, dass ich diese Verse nicht aussuchen muss und sie sowie schon lange im Voraus eher nach dem Zufallsprinzip gezogen werden. In unserer Gemeindetradition gehören wir zudem eher zu den Stillen im Lande. Laute politische Äußerungen sind uns fremd und suspekt. Vor allem war es in einer Hälfte unserer Republik lange Jahre gar nicht so einfach sich als Christ politisch einzumischen. Ich weiß – ich bewege mich da gerade auf dünnem Eis. 

Dieser Vers fordert uns aber dazu heraus, nicht nur einen Blick aus dem uns Bekannten und Sicheren zu wagen. Wir werden aufgefordert uns weit aus dem Fenster zu beugen. Wir sollen dann auch nicht nur schauen, sondern herausrufen. Was er aber bedeutet ist, das behagliche Haus zu verlassen und die Augen nicht vor denen zu verschließen, denen das Wort Behaglichkeit ganz fremd ist. Wir sollen für sie aktiv eintreten. 

Was sich politisch anhört, ist eher sozial. Es gehört nicht in eine ideologische Richtung, sondern in unser Leben, das ohne Gemeinschaft nicht zu denken ist. Denn Gott hat es so geschaffen. 

Vor allem sind dies Worte einer Mutter an seinen Sohn, wie wir gleich zu Anfang des Kapitels lesen. Der Sohn ist der weise König Lemuel aus dem uns heute unbekannten Reich Massa. Die Mutter spricht auch nicht nur aus Mitleid zu ihm und kommt auf die moralische Tour. Denn die alte griechische Übersetzung der hebräischen Bibel macht den Vers sogar zu einem Wort, das bei Gott seinen Ursprung hat. 

Gott selbst spricht also zu denen, die Ressourcen zur Verfügung haben und erinnert sie daran, verantwortlich damit umzugehen. Dabei geht es nicht darum aufzuschauen und den Stab auf den nächst-wohlhabendsten abzugeben. Ganz im Gegenteil soll man in diesem Fall wirklich herabschauen, aber nicht abfällig, sondern von Herzen hilfsbereit. Trotzdem hat Lemuel, der König, natürlich eine größere Verantwortung, als andere. Aber darum geht es nicht in erster Linie. 

Es geht darum, dass wir über Unrecht nicht schweigen, und zwar besonders dann, wenn es nicht um uns sondern andere geht. Lemuels Mutter hört Gott zu ihr reden: 

Schau von Dir weg auf die, die Not leiden und schweige nicht dazu. Versinke nicht in Selbstmitleid

Besonders in unserer Zeit der Masken müssen wir also darauf achten, dass wir uns nicht in uns verlieren. Lemuel erinnert sich daran und gibt diese weisen Worte an uns weiter. Das macht er nicht als Muttersöhnchen, sondern als jemand, der Gott liebt. Denn Gottes Liebe öffnet den Blick und den Mund für unsere Mitmenschen. 

Lassen wir uns also Mut machen uns aus dem Fenster zu lehnen, vielleicht auch mal auf dünnes Eis zu wagen nicht um unser Willen, sondern um unseres Mitmenschen willen. Gott wird aufpassen, dass wir dabei nicht stürzen oder einbrechen. Denn er selbst hat unsere Stimme schon gehört. 

Am Kreuz hat er das so deutlich gezeigt, wie nirgendwo anders. Er hat von sich weg auf uns geschaut. Wenn wir also auf ihn schauen, werden wir auch unseren Mitmenschen sehen. Wenn wir auf seine Stimme hören, wollen wir das auch anderen gönnen. 

Lassen wir den Mai also für den einen oder anderen zum Wonnemonat werden, der oder die das lange nicht erlebt hat. Das wäre doch was, oder?