Ich denke, jeder hat das schon erlebt. Fast kann ich es mir gar nicht anders vorstellen. Denn eigentlich jeder von uns ist zur Schule gegangen, hat eine Berufsausbildung genossen oder ein Studium absolviert. Nun ja, vielleicht hat nicht jeder die ganze Zeit des Lernens genossen. Wenn ich mich aber in der Welt so umschaue, genießen wir mit unserem Bildungssystem ein großes Privileg. In vielen Ländern dieser Welt muss man sich selbst erproben. Lehrer und Ausbilder sind weit und breit nicht zu finden. In vielen traditionellen Kulturen gibt es zwar keine ausgezeichneten Lehrer. Dafür schauen die Jüngeren den Älteren aufmerksam zu. Dann probieren sie es selbst aus. Und wenn es nicht auf Anhieb klappt, schaut man genauer hin und probiert es aufs Neue. Nach und nach läuft einem die Fertigkeit immer besser von der Hand, bis man selbst zum Älteren wird und Jüngere auf einen schauen um zu lernen ohne dass man es vielleicht merkt.
Als Jesus mit seinen Nachfolgern umher reiste, lehrte er sie durch Worte, aber auch durch sein Verhalten und seine Gewohnheiten. So fiel es seinen Freunden auf, dass Jesus das Gebet nicht auf bestimmte Orte oder Zeiten beschränkte. Er betete zwar natürlich auch am Sabbat in der Synagoge und an den Feiertagen. Immer wieder nahm er sich aber auch zwischendurch und auch regelmäßig Zeit fürs Gebet, nachts zum Beispiel oder frühmorgens, irgendwo auf dem Feld und unterwegs, allein und in der Gruppe.
Seine Nachfolger schauten ihm beim Gebet zu. Jesus machte es wohl nichts aus, sich beobachten zu lassen. Seine Nachfolger verglichen Jesus aber auch mit anderen Lehrern, Johannes dem Täufer zum Beispiel. So vermissen sie bei Jesus eine klare Anleitung zum Gebet. Johannes war da offensichtlich viel konkreter.
Deswegen kommen sie vertrauensvoll auf Jesus zu und fragen ihn. Sie wollen lernen. Und Fragen und Antworten gehören wie das Beobachten und Ausprobieren zum Lernen dazu:
“Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes es getan hat.”
(Lukas 11, Vers 1)
Jesus geht gerne auf ihr Bitten ein und beendet das Beispielgebet (wir nennen es Vaterunser) mit der Bitte nicht auf die Probe gestellt zu werden. Das ist seltsam, oder? In unseren Übersetzungen steht dort:
“Führe uns nicht in Versuchung.”
(Lukas 11, Vers 4)
Jesus selbst bittet seine Nachfolger also zu bitten nicht auf die Probe gestellt zu werden. Warum macht er das? Warum sollte Gott, der Vater im Himmel, auch seine Kinder in Versuchung führen?! Meint er es nicht gut mit uns?
Doch, das tut er gewiss! Aber wir übersehen oft die vorgergehenden Zeilen des Gebets. Das Gebetbeginnt nämlich mit der Aufforderung an den Vater zu bestimmen, was er tun will. Wir machen uns also bereit Gott an uns handeln zu lassen. Von ihm erwarten wir, dass er uns rundum versorgt und gut tut. Ihn bitten wir auch barmherzig mit uns umzugehen. Ihm versprechen wir aber im Vaterunser auch barmherzig mit anderen umzugehen.
Das ist der Punkt, an dem wir im Gebet, also im Gespräch mit Gott, uns selbst prüfen sollen. Wir sprechen mit Gott also über die größten Herausforderungen in unserem Leben. Es geht darum Vergebung rundum anzunehmen, einmal sich vergeben zu lassen und das andere Mal selbst unserem Mitmenschen zu vergeben.
Jesus lädt hier zur Selbstkritik ein, zur Evaluation des eigenen Handelns und Denkens.
Wenn wir uns dem verweigern, macht das der barmherzige Vater gerne mit uns. Er möchte nämlich, dass wir das Examen bestehen und das annehmen, was er uns alles schenken möchte.
“Führe uns nicht in Versuchung.” bedeutet also auch, dass wir die Proben und Tests in unserem Leben selbst vor den Vater bringen und nicht unsere Augen davor verschließen.
“Führe uns nicht in Versuchung.” ist auch die Bitte, die Qualität unseres Charakters selbst auszubauen, indem wir nicht nur isoliert auf uns, sondern auch auf unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen schauen. Jesus lädt uns ein das Angebot des himmlischen Vaters an uns auch anderen gönnen. Hier kst keine Zeit für Selbstmitleid, sondern die Gelegenheit aufzustehen.
Verstecken wir uns nicht vor uns selbst, nicht vor unserem Mitmenschen und nicht vor dem Vater. Er gibt und vergibt gern. Lernen wir von Jesus. Das klappt. Da bin ich mir sicher. Jesus war das.
Amen? … Amen!