Schwindlig oder Schwindler?

(Ein paar Gedanken vom Propheten Jesaja darüber, wie man im Dunkeln doch weit sehen kann.)

Als wir klein waren, meine Schwester und ich, nahm uns mein Vater ab und zu auf den Dachboden mit. Er ist ziemlich groß und hoch. In einem Bereich ist eine kleine Plattform, von der man durch ein kleines Dachfenster schauen konnte. Der Papa war dabei, deswegen wurde uns nicht schwindlig. Bei gutem Wetter konnten man von dort auf jeden Fall den gut 60 Kilometer entfernten Brocken sehen, den mit über 1100 Meter höchsten Berg Norddeutschlands. Auch wenn ich jetzt näher am Brocken wohne, bin ich bis jetzt nie auf den Gipfel gestiegen oder gefahren. Irgendwann schaffe ich es bestimmt mal. Zeit brauche ich und gutes Wetter. Ich will ja die schöne Aussicht genießen. Bei schlechtem Wetter ist das schwierig. 

Lange vor unserer Zeit steht der Prophet Jesaja auf dem Berg Zion, auf dem der jüdische Tempel steht, mitten in der Stadt Jerusalem. Er hält auch Ausschau, wendet sich vor und zurück. Das Wetter ist schlecht. Es ist dunkel. Trotzdem kann er weit schauen. Trotzdem hat er eine gute Aussicht. Das ist doch Schwindel, oder? Im Dunkeln kann man nicht sehen, weit schon gar nicht. 

Jesaja schaut von der Stadt Gottes, dem Symbol seiner Gegenwart jedoch nicht so sehr auf die Landschaft. Er schaut in Geschichte und Gegenwart. Er sieht das Handeln der Menschen und das Wirken Gottes. Von Norden her wird es dunkel. Zuerst sieht er Samaria gegen Jerusalem ziehen, dann Assyrien gegen Samaria und Jerusalem. Jesaja sieht Städte und Dörfer, die eingenommen werden, eine Route der Zerstörung und des Leides. Er schaut auch in seine Stadt Jerusalem und die Dörfer ringsum hinein. Gibt es nichts anderes zu tun als sich wehzutun? Jesaja will es schwindlig werden. Er wankt, doch hält er sich am Geländer fest und schaut zurück und dann wieder vor über die Gegenwart hinweg. Er sieht in der Ferne Licht scheinen und ruft laut aus: 

Aber die Zeit der Finsternis und der Hoffnungslosigkeit wird einmal ein Ende haben. Früher hat Gott Schande gebracht über das Gebiet der Stämme Sebulon und Naftali, in Zukunft aber bringt er gerade diese Gegend, die Westseite des Sees Genezaret, zu Ehren, ebenso das Ostjordanland und das nördliche Galiläa, wo andere Völker wohnen.” 

(Jesaja 8,23 nach der Bibelübersetzung Hoffnung für Alle)

Woher nimmt Jesaja diese Hoffnung? Wie kommt er auf seine Weissagungen?

Er schaut in die Geschichte seines Volkes und erkennt immer wieder das Handeln seines Gottes. Gott zeigt ihm dunkle Zeiten in der Vergangenheit, die der augenblicklichen sehr ähnelten. Anfeindungen von außen und Zweifel von innen. So war es nicht lange nach der Zeit, in der Gott seinem Volk das versprochene Land gegeben hatte. Sie hatten Großes erlebt, vergaßen aber ihren Gott, der sie so beschenkt hatte. Doch dann steht jemand auf, steigt im Vertrauen auf Gott auf einen Felsen und sieht, wie die Feinde seines Volkes zusammenbrechen. 

Jesaja erinnert sich und bekommt eine neue Sicht für Gegenwart und Zukunft, für seine Mitmenschen und für uns heute. Manchmal wird ihm schwindlig. Viele zweifeln und meinen einen Schwindler vor sich zu haben. Es sind die, die sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weigern sich Gott anzuvertrauen. Im Dunkeln wächst der Zweifel. Sie verschließen ihre Augen vor dem Licht am Horizont. Andere dagegen steigen auch auf den Berg. Sie nehmen ihre Hände von den Augen und erleben Gottes Gegenwart erst als kleines Licht, dann immer heller. 

Machen wir es ihnen doch nach! Schauen wir in die Vergangenheit, in der Gott gehandelt hat in der Geschichte, aber auch in unserem Leben. Lassen wir ihn selbst in unsere Gegenwart leuchten und in die Zukunft. Dazu lädt uns die Adventszeit ein. Dann sehen und erleben wir: 

Das Volk, das in der Finsternis lebt, sieht ein großes Licht; hell strahlt es auf über denen, die ohne Hoffnung sind. …  Denn uns ist ein Kind geboren! Ein Sohn ist uns geschenkt! Er wird die Herrschaft übernehmen. Man nennt ihn »Wunderbarer Ratgeber«, »Starker Gott«, »Ewiger Vater«, »Friedensfürst«.” 

(Jesaja 9,1 und 5 nach der Bibelübersetzung Hoffnung für Alle)

Wie das damals galt, gilt es heute um so mehr! Verbergen wir unsere Blicke nicht vor der Vergangenheit, damit wir unsere Gegenwart und Zukunft im richtigen Licht sehen. Wie schön!