Ich erinnere mich an einen Tagesausflug mit der Grundschule – damals, lange her. Es ging wohl in den Harz. Der Tag war toll und voller Abenteuer. Begeistert kommen wir am frühen Abend an der Schule an und steigen aus dem Reisebus. Alle werden nacheinander abgeholt. Nur ein Schulfreund nicht. Die Eltern hatten die Uhrzeit total vergessen. Wir nehmen ihn mit nach Hause. Aber die Tränen fließen trotzdem: „Meine Eltern können mich doch nicht vergessen!“ Nein, sie haben ihr Kind wirklich nicht vergessen, die Uhrzeit aber schon, und das reicht.
Im dritten Kapitel seines Buches der Klagelieder beschreibt der Prophet Jeremia genau dieses Gefühl: „Ich bin verlassen und vergessen!“ Doch seine Beschreibung in dieser Situation sprengt alle Vorstellungen und Erfahrungen. Gott selbst hat sein Volk nicht nur verlassen. Er hat es sogar in die Irre geführt. Er hat es nicht nur mal schnell vergessen. Es war nicht die Uhrzeit, die er verschlafen hat. Sein Volk hat den Eindruck, dass er es voller Absicht tut. Gott lässt sein Volk hängen, verschmachten, Opfer werden, Willkür erleiden. Ich bin beim Lesen selbst überrascht, wie intensiv Jeremia die Enttäuschung seines Volkes schildert, und er mittendrin.
Doch dann kommen auch mittendrin Worte der Hoffnung, der Glaubens, des unerschütterlichen Vertrauens. Es ist das Bekenntnis der Treue und Barmherzigkeit Gottes. Diese Aussagen gehören sogar zu den bekanntesten Versen aus der ganzen Bibel.
“Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende.”
…
“Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.”
(Klagelieder 3,22 und 31 bis 32 nach der Lutherübersetzung 2017)
Ja, Gott hat sein Volk verlassen, so scheint es, sogar verstoßen, so lesen wir. Und doch verliert er es nicht aus den Augen. Obwohl; er sieht es nur ganz verschwommen durch die Tränen, die er über sein Volk vergießt. Denn er läuft neben seinen Geliebten her und weint mit ihnen als Mann der Schmerzen. So beschreibt es der Prophet Jesaja lange vor Jeremia. Trotzdem ist es schon überraschend zu sehen, dass Jeremia Gott mehrmals als jemand beschreibt, der bitterlich um sein Volk weint. Hier schaut er also nicht nur zu, wie es sein Volk tut. Er selbst ist ganz dabei.
Gerade in diesem Wissen der Treue und Barmherzigkeit Gottes erinnert sich Jeremia dann an die schweren Versäumnisse seines Volkes. Sie selbst haben ihre Mitmenschen nicht nur vergessen. Sie haben sie ausgenutzt, sich selbst vergessen und Gott erst recht ignoriert manchmal unbewusst, manchmal ganz offen. So macht sich Gott unsichtbar, bleibt aber doch anwesend. Wenn es auch scheint und er es zulässt, dass seine Geliebten denken, er hätte sie vergessen und verlassen. Er ist mittendrin. Aber er lässt sie auch den bitteren Weg gehen, den sie sich selbst schon lange vorbereitet haben und jetzt auch gehen müssen.
Zwei Dinge hätte sein jedoch Volk nicht erwartet. Zuerst einmal, dass Gott wirklich ernst macht und die Bosheit seines Volk nicht durchgehen lässt. Was sie aber noch viel weniger erwartet hätten ist, dass er dann doch kommt um sie von ihrer drückenden Schuld zu erlösen. Denn er hat seine Kraft und Treue in aller Trauer und Enttäuschung nicht verloren. Er steht zu seinen Zusagen. Das ist Jeremias Glaube, den er in diesem Kapitel so intensiv erlebt und Ausdruck verleiht.
“Du führst, Herr, meine Sache und erlöst mein Leben.”
(Klagelieder 3,58 nach der Lutherübersetzung 2017)
Was hierbei noch überraschender ist. Jeremia ist eigentlich frei von der Schuld seines Volkes. Er hat gar nichts damit zu tun, muss aber trotzdem darunter leiden. Er weiß sich aber als Teil seiner Gesellschaft. Er sagt seine Meinung und hinterfragt die irrigen Vorstellungen. Ihm ist es aber wichtig sich nicht als Richter über es zu erheben. Er vertraut alles Gott an und stellt sich trauernd und hadernd zu seinen Mitmenschen. Wie er das aushält?
Mitten in einer Gesellschaft, die nichts von Gott wissen will, sucht er um so mehr diesen, seinen Gott, der sein Erlöser ist. Er weiß, dass Gott ihn weder vergessen noch verlassen hat. Er ist ihm ganz nah und lässt sich von ihm bewegen und prägen.
Schließlich werden seine Worte zum Trost des Volkes in der Verbannung. Denn das Volk merkt schließlich: „Dieser Jeremia war jemand von uns. Aber er hielt an unserem Erlöser fest, als wir ihn als solchen vergessen und verlassen hatten.“
Lassen wir uns auch von Jeremia Mut machen einmal Teil unserer Gesellschaft zu bleiben und mit ihr zu fühlen, gleichzeitig aber um so mehr an Gott festzuhalten und nicht alles mitzumachen, was ‚man‘ so macht. Gehen und bleiben wir an der Hand unseres Erlösers – auch durch die Straßen, zum Einkaufen, zur Arbeit, Schule, Studium … Und: