In den letzten gut zwei Jahren sind mir ein paar Fragen immer wieder mehr oder weniger intensiv über den Weg gelaufen. Es geht um Kernfragen zu unserem Glauben als Christen. Sie fordern uns heraus. Sie hinterfragen uns, besonders aber auch den Gott, dem wir uns anvertraut haben. Was hat es damit auf sich? Gibt es da einfache Antworten? Ob sie Dich überzeugen? Keine Ahnung. Du musst sie aber zumindest nahe an Dich ranlassen. Hören wir mal…
• Warum schickt Gott als Vater seinen Sohn vor damit er für andere stirbt?
• Warum war so eine drastische Lösung nötig? Hätte es Gott nicht schmerzloser machen können?
• Warum mischt sich Gott eigentlich in unser Leben und unsere Angelegenheiten ein?
Eigentlich füllen diese drei Fragen mindestens drei Predigten. Ich will trotzdem versuchen, sie in einer zu bündeln. Denn im Grunde genommen gehören sie zusammen. Es geht nämlich immer um liebevolles Miteinander und absolutes Füreinandereinstehen. Es handelt sich um mehr, als Einmütigkeit trotz verschiedener Lösungsansätze. Es geht um echte Einheit, Menschen, die nicht miteinander auskommen und Gott, der nicht ohne uns auskommen will.
Warum schickt der Vater seinen Sohn vor, damit er für andere stirbt?
Ich denke, kaum etwas ist schwerer zu ertragen, als wenn Eltern ihre Kinder am Grab loslassen müssen. Einige von uns haben das schmerzhaft erlebt. Andere können sich das nur vorstellen. Es ist schon schlimm genug, seine Eltern oder Ehepartner ziehen zu lassen. Bei allen Dingen, die nicht so gut gelaufen sind, ist man doch über die Jahre zusammengewachsen. Manchmal haben sich die Zweige in die entgegengesetzte Richtung ausgestreckt. Aber man ist doch wie an einem Stamm verbunden. Wie kann jetzt plötzlich der Stamm seinen Hauptzweig abstoßen? Wie kann Gott, der sich als liebender Vater vorstellt, seinen erstgeborenen, ureigensten, einzigen Sohn in den Tod schicken? Löst sich der Zweig wirklich?
Aus dieser Frage sind schon zu Beginn der christlichen Kirche seltsame Lösungsansätze verbreitet worden. Da gäbe es zum Beispiel den tyrannischen Gott des Alten Testaments, der auffordert Blut fließen zu lassen, um ihn zu besänftigen. Daneben gibt es den Gott der Liebe, der sich selbst opfert. Der Gott des Neuen Testaments. Diese Anfragen wurden von Anfang an sehr ernst genommen. Beim Studium der Heiligen Schriften, entdeckten die frühen Christen dann auch einen roten Faden, der sich von Anfang bis Ende durchzieht: Gott ist einer! Das war auch eine wesentliche Botschaft der Schriften des entstehenden Neuen Testaments. Gott ist immer ganz beteiligt. Er entzieht sich seiner Schöpfung nicht. Er will wieder eins mit ihr werden.
Jesus selbst drückt das kurz vor seinem Tod im Gespräch mit Gott in besonderer Weise aus. Er nennt ihn seinen Vater und geht sogar noch weiter. Der eine ist im anderen und der andere im einen. Und in diese Einheit werden wir Menschen eingeladen. Es ist eine Einheit, die durch unzerstörbare Liebe geprägt ist. Da betet Jesus:
“Ich bete darum, dass sie alle eins seien, so wie du in mir bist, Vater, und ich in dir. So wie wir sollen auch sie in uns eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. … Vater, du hast sie mir gegeben, und ich will, dass sie mit mir dort sind, wo ich bin. Sie sollen meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast, weil du mich schon liebtest, bevor die Welt geschaffen wurde. … Ich habe ihnen gezeigt, wer du bist, und werde es weiter tun. So wird die Liebe, die du zu mir hast, auch sie erfüllen und ich werde in ihnen leben.«”
(Johannes 17,21.24.26 nach der Gute Nachricht Bibelübersetzung)
In diese Liebe und diese Einheit zwischen Vater und Sohn, will Jesus auch uns hineinnehmen. Es ist die liebevolle Einheit, die zwischen Gott Vater und Sohn schon bestanden hat, bevor sie die Welt schufen. Über die Zeiten waren und bleiben sie untrennbar.
Wenn wir also von außen den Eindruck bekommen, dass Gott als Vater seinen Sohn opfert und vorschickt, weil er es selber nicht tun möchte, ist es ein Eindruck von außen, von außerhalb der Einheit, die Jesus selbst erlebt und in seinem Gespräch mit dem Vater deutlich macht.
Jesus beschreibt hier seine Innensicht. Er hat überhaupt nicht den Eindruck vorgeschickt worden zu sein. Es war sein eigener Wille ans Kreuz zu gehen. Es ist die Lösung des Problems, das uns seit Menschengedenken bis heute und hier plagt. Es ist unsere fehlende Einheit mit Gott und deswegen auch untereinander.
Der ganze Gott selbst kommt zu uns, um uns einzuladen echte Gemeinschaft mit ihm zu haben. Diese Einladung zieht sich als weiterer roter Faden durch die ganze Bibel.
Es ist also nicht so, dass der Vater seinen Sohn vorschickt. Er ist im Sohn und voll beteiligt. Die Antwort liegt in der damit verbundenen Einladung Gott ganz nah, von innen, kennenzulernen. Gott macht sich nahbar, angreifbar, verletzlich. “Er ist nicht ferne von uns.” So predigt es Paulus mehrmals in den inzwischen türkischen und griechischen Städten (z.B. Apostelgeschichte, Kapitel 17, Vers 27).
Soweit, so gut. Aber warum war eine solch drastische Lösung wie die am Kreuz nötig?
Warum war so eine drastische Lösung nötig?
Hätte es Gott nicht einfach so machen können? Der Gott, der im Islam gepredigt wird, kann das. Aber unser Gott, dem wir uns als Christen anvertraut haben, ist nicht nur mächtig, sondern auch barmherzig, gerecht und er mag die Nähe zu uns – alles zusammen. Das Kreuz zeigt das alles. Und es zeigt uns noch viel mehr. Und damit sind wir wieder bei Einmütigkeit, Einheit und Gemeinschaft.
Gott kann einfach nicht von seiner Schöpfung lassen. Er ist keiner, der von der Ferne und aus sicherem Abstand urteilt. Er entzieht sich uns nicht. Er will das nicht. Er kann das nicht. Er hat uns geschaffen und ist deswegen untrennbar mit uns verbunden.
“Wie könnte eine Mutter ihr Kind vergessen?” Diese Frage stellt Gott selbst seinem Volk, das sich verlassen fühlt. Sie verschließen die Augen vor der ganzen Wahrheit. Nicht Gott hat sie, sondern sie haben Gott verlassen. Gott hat sie nicht vergessen, hat niemand von uns vergessen. “Wie könnte eine Mutter ihr Kind vergessen?” Was würde eine Mutter für ihre Kinder tun, was ein liebender Vater für seine Familie? Wieviel würdet Ihr einsetzen, um Eure Kinder vor dem Ruin zu bewahren? Wieviel würdet Ihr einsetzen?
Wieviel setzen Eltern von drogenabhängigen Kindern ein, um sie aus dem Sumpf rauszuholen? Nicht selten gibt es das Phänomen der Co-Abhängigkeit. Eltern lassen sich mit hineinziehen bis sie sich selbst verschulden und finanziell ruinieren, alles wegen dieser untrennbaren Verbindung. Und selbst die Eltern, die aus Liebe Nein sagen, leiden an den Verstrickungen ihrer Kinder. Natürlich ist es etwas überzogen, uns normale Menschen mit Drogenabhängigen zu vergleichen. Hier geht es aber um den Schmerz, den Gott empfindet, weil er sieht, wie wir uns von ihm entfremden und es uns nicht gut tut. Ehen gehen kaputt. Beziehungen leiden Schaden. Missverständnisse werden nicht geklärt. Persönliche Meinungen werden absolut gesetzt. Was in kleinem Maßstab zwischen uns Menschen passiert, sehen wir mit Angst und Schrecken im Großen, wenn wir von Kriegen und Spezialeinsätzen hören.
Jetzt kommt Jesus zu uns aus der Gemeinschaft mit dem Vater. Gott selbst investiert sich in uns. Er selbst gibt alles für uns, um uns zurückzuholen, uns einzuladen in diese heilende Gemeinschaft mit ihm. Der Prophet Jesaja sieht das Wesen Gottes schon lange bevor Jesus endlich kommt und beschreibt das so:
“In Wahrheit aber hat er die Krankheiten auf sich genommen, die für uns bestimmt waren, und die Schmerzen erlitten, die wir verdient hatten. Wir meinten, Gott habe ihn gestraft und geschlagen;* doch wegen unserer Schuld wurde er gequält und wegen unseres Ungehorsams geschlagen. Die Strafe für unsere Schuld traf ihn und wir sind gerettet. Er wurde verwundet und wir sind heil geworden.* Wir alle waren wie Schafe, die sich verlaufen haben; jeder ging seinen eigenen Weg. Ihm aber hat der Herr unsere ganze Schuld aufgeladen. * Er wurde misshandelt, aber er trug es, ohne zu klagen. Wie ein Lamm, wenn es zum Schlachten geführt wird, wie ein Schaf, wenn es geschoren wird, duldete er alles schweigend, ohne zu klagen.”
(Jesaja 53,4–7 nach der Gute Nachricht Bibelübersetzung)
Hier wird wieder die fehlende Gemeinschaft unter uns Menschen thematisiert. Schafe, die ohne Hirten auseinanderlaufen und ihren eigenen Weg gehen. So ist es doch auch in unserer Lebenswirklichkeit. Wir drehen unsere eignen Dinger und lassen andere nicht gerne in unsere Karten schauen. Das empfinden wir als übergriffig. Gott lässt sich dagegen in seine Karten schauen. Er grenzt sich nicht ab. Er lässt uns bis in sein Herz schauen, sein Innerstes sehen. Er kann nicht von uns lassen. Deswegen wählt er solch einen drastischen Weg. Gott wird Mensch und macht sich uns bis zum Ende gleich. Er entzieht sich uns nicht. Und damit sind wir bei der dritten Frage.
Warum mischt sich Gott in unser Leben und unsere Angelegenheiten ein?
Im Grunde genommen ist diese Frage schon beantwortet. Gott will unser kaputtes Miteinander heilen und die Gemeinschaft mit ihm wiederherstellen. Das erste geht nicht ohne das zweite. Er will uns nahe sein. Jetzt leben wir in einer Gesellschaft, in der die meisten von uns ein großes Maß an Privatsphäre brauchen – natürlich, die einen mehr, als die anderen. Unser Selbstverständnis als Individuen ist sehr groß.
Deswegen ist diese Frage nicht nur die nach Gott, sondern auch nach unserem Selbstverständnis.
Zuerst einmal sind wir dankbar, dass wir in einer Gesellschaft leben, wo wir selbst unser Schicksal bestimmen können. Wir leben in einer Demokratie, in der wir unsere Stimme erheben dürfen, aber es auch nicht müssen. Wir werden nicht auf ein bestimmtes Lebenskonzept beschränkt. Alles mögliche ist auch möglich. Grenzen werden dort gesetzt, wo das mögliche eingeschränkt wird. Das ist zuerst einmal eine gute Sache. Die dunkle Seite dieser Münze ist, dass wir das Miteinander verlieren. Wir vereinsamen äußerlich, aber besonders innerlich.
Gott sagt ganz eindeutig Nein zu dieser Vereinsamung. Seine Idee von der Schöpfung ist die des Miteinanders, ohne dass man sein Ich verliert. Seine Idee von der Schöpfung ist auch nie eine gewesen, aus der er sich zurückzieht. Unsere Idee von der Welt ist oft die, das wir unsere eigenen Dinger drehen, uns dann aber wundern, wenn Gott nicht eingreift und so vieles zulässt, unter dem wir oder die Menschen woanders leiden. Gott wehrt sich dagegen und kommt nachhause zurück. Er klopft an. Er kommt als Mensch und bleibt doch Gott. Er ist wie wir und doch ganz anders. Er ist der, bei dem wir heil werden, Heimat finden und unsere Sehnsucht stillen dürfen. So fängt auch das letzte Buch in der Bibel an.
“Gebt Acht, ich stehe vor der Tür und klopfe an! Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, werde ich bei ihm einkehren. Ich werde mit ihm das Mahl halten und er mit mir.”
(Offenbarung 3,20 nach der Gute Nachricht Bibelübersetzung)
Gott lädt uns ein mit ihm zu feiern. Das ist ihm wichtig. Er will ohne uns nicht anfangen. Dafür zahlt er den höchsten Preis, den wir uns vorstellen können. Er gibt sich selbst. Der, der das Leben erfunden hat, gibt es uns neu, dass wir heil werden. Er macht es nicht mit distanzierte Macht. Er macht sich klein und kommt uns nah.