Über die eigenen Verhältnisse leben (Mk 16,9-20)

Über unsere Verhältnisse leben

Heute beenden wir unsere Reise durch das Markusevangelium. Es geht darum, Jesus nicht nur persönlich zu begegnen, sondern sich von ihm Tag für Tag begleiten zu lassen. Er will uns nicht nur einfach mal begegnen und uns dann alleine losschicken. Viele Menschen haben ja auch so ein Gottesbild. Gott hat die Welt geschaffen, den Menschen hineingesetzt und sich dann zurückgezogen. Aber - Gott sei Dank! - ist Gott nicht so. Er kommt uns entgegen und möchte, dass wir ihm uns immer mehr anvertrauen. Viele Christen haben auch solch ein Bild von der Gemeinde. Sie haben gemerkt, wie Jesus einen Anfang mit ihnen gemacht hat, damit sie dann Gemeinde aus sich selbst schaffen. Jesus gibt den Startschuss für die Gemeinde. Dann ist sie in dem Vorhaben auf sich gestellt. Jesus steht am Start und wartet am Ziel. Dazwischen erinnert man sich an ihn. Er selbst ist aber abwesend. Letztendlich ist es dasselbe, wie beim angesprochenen Gottesbild. Wir sind auf uns gestellt. Aber genau solch einem Gottes- und Jesus- und Gemeindebild widerspricht Markus in seinem Evangelium. Denn Evangelium heißt ja auf deutsch Gute Nachricht. Deswegen beginnt er seinen Jesusbericht auch mit den Worten: 

Anfang der Guten Nachricht von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.

(Markus 1,1)

Gott kommt neu auf uns zu; und er will bleiben. Das macht er von Anfang an deutlich. So endet auch das Markusevangelium: 

Dann sagte (Jesus) zu ihnen: »Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet allen Menschen die rettende Botschaft. … Die Jünger aber zogen hinaus und verkündeten überall die rettende Botschaft. Der Herr war mit ihnen und bestätigte ihr Wort durch die Zeichen seiner Macht.
(Markus 16,15 und 20 nach der Bibelübersetzung Hoffnung für Alle) 

Der Herr war mit ihnen und bestätigte ihr Wort. Darum geht es. Wir leben nicht mehr allein vor uns her. Wir sind nicht allein auf unsere Kräfte und eigene Schlauigkeit angewiesen. 

Mit Jesus an unserer Seite dürfen wir über unsere Verhältnisse leben. Wenn wir Jesus folgen, dürfen wir den Rahmen unserer Vorstellungen ruhig sprengen lassen. 

Malen wir uns das doch mal ein bisschen aus. Was passiert normalerweise, wenn wir über unsere Verhältnisse leben? 

Finanziell gehen wir bankrott. Da sind wir dabei uns ein Häuschen zu bauen (und ich rede jetzt nicht von unserem Gemeindehausbauplan). Doch plötzlich wird uns das Geld aus dem Fördertopf des Staates nicht ausgezahlt. Diese Förderung war aber ganz fest eingerechnet worden von uns und auch von unserer Bank, die uns Kredite gegeben hat. Denn eine Bank gibt nur dann einen Vorschuss, wenn es verhältnismäßig ist. Der Finanzberater schaut nicht auf unsere Wünsche, sondern auf unsere Möglichkeiten. 

Jetzt gibt es natürlich auch viele Kreditangebote, die unseren Wunsch ausnutzen und uns Möglichkeiten vorgaukeln, die es nicht gibt. Wenn wir erstmal unterschrieben haben, saugen sie uns bis zum Unterhemd aus. Sie ketten uns unlösbar fest. 

Am Ende des Markusevangeliums lesen wir etwas anderes. Jesus spricht von einer rettenden Botschaft und dass er seine Leute nicht nur begleitet, sondern auch bestätigt. Das tut er, weil sie sich entschieden haben mit ihm zu gehen, ihm zu folgen. 

Genau dasselbe gilt auch heute für uns. Wenn wir Jesus aber am Start stehen lassen und nur am Ziel erwarten, bleiben wir auf uns selbst gestellt.

So fühlen sich die ersten Nachfolger von Jesus, als sie ihn ganz unerwartet am Kreuz leiden und sterben sehen. Als sie dann vor dem leeren Grab stehen, erleben sie ihre innere Leere noch viel stärker. Und als sie hören, dass er der einen und den anderen persönlich begegnet ist, wollen sie es nicht glauben. 

Ist das der Anfang der Guten Nachricht von Jesus, dem Sohn Gottes? Sieht so ein Anfang aus? Das ist kein Startschuss, sondern eher eine Exekution. Sie denken frustriert zurück und kommen zum Schluss: “Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt und stehen jetzt vor den Trümmern unserer Träume.” Wahrscheinlich hat sie Jesus jetzt genau an dem Punkt, wo er sie hinführen wollte. Und genau an diesem Punkt der frustrierten Selbstüberschätzung begegnet er ihnen nacheinander. Genau an diesem Punkt beginnt die zweite Staffel der Guten Nachricht von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. 

Hier eine kleine Zwischenbemerkung. Diese letzten 12 Verse des Markusevangeliums bilden einen Zusatz zum Originalbericht, den Markus geschrieben hat. Der Schreibstil in diesen letzten 12 Versen ändert sich nämlich. Auch ist der Wortschatz ein anderer. In einem ganzen Teil der ältesten Handschriften vom Markusevangelium fehlen diese Verse. Im Grunde genommen erkennen wir hier eine kurze, angefügte Zusammenfassung von den Berichten, die uns Matthäus, Lukas und Johannes geben. Das heißt aber nicht, dass das alles nicht wahr ist. Denn andere alte Handschriften überliefern diese Verse. Und abgesehen davon bestätigen einige der ersten Kirchenleiter, dass genau das wirklich so bei erlebt wurde. Wir lesen hier also nicht nur von Dingen, die nur damals bei den Aposteln erlebbar waren. Irenäus, ein Kirchenleiter aus Frankreich, zitiert diese Verse im zweiten Jahrhundert und sagt: “Genau das erleben wie auch heute noch.” Ein paar Jahrzehnte später berichtet Tertullian, ein Kirchenleiter in Nordafrika, von denselben Ereignissen. 

Ein großes Thema von Markus nehmen sie alle auf: 

Vertraue auf Jesus, glaube ihm. Erlebe, wie er Dir und anderen begegnet. Lebe in seinen Verhältnissen, nicht in Deinen.

Genau auf diese Wunde legt Markus ja seinen Finger. Die ersten Nachfolger und Vertrauten von Jesus müssen erst lernen ihr Welt- und Gottesbild an das von Jesus anzupassen. Das Kreuz ist nicht das Ende eines Traums, sondern ein Zeichen des Sieges über unsere beengten Verhältnisse und harten Herzen. Das leere Grab ist nicht der Ort für religiöse Zeremonien, sondern die Einladung auf die Begegnung mit Jesus zu warten und dann in seinen Verhältnissen zu leben. 

Hören wir doch mal auf Markus 16,9–14 (nach der Bubelübersetzung Hoffnung für Alle):

Jesus war frühmorgens am ersten Tag der Woche von den Toten auferstanden und erschien zuerst Maria aus Magdala, die er von sieben Dämonen befreit hatte. 10 Sie lief zu den Jüngern, die um Jesus trauerten und weinten, und berichtete ihnen: 11 »Jesus lebt! Ich habe ihn gesehen!« Aber die Jünger glaubten ihr nicht. 12 Danach erschien Jesus zwei von ihnen in einer anderen Gestalt, als sie unterwegs von Jerusalem aufs Land waren. 13 Sie kehrten gleich nach Jerusalem zurück, um es den anderen zu berichten. Aber auch ihnen glaubten sie nicht. 14 Wenig später erschien Jesus den elf Jüngern, während sie gemeinsam aßen. Er wies sie zurecht, weil sie in ihrem Unglauben und Starrsinn nicht einmal denen glauben wollten, die ihn nach seiner Auferstehung gesehen hatten.

Jesus redet am Ende sehr streng mit seinen in sich selbst gefangenen Nachfolgern. Sie haben gedacht, sie wären jetzt ganz auf sich allein gestellt. Ihr Traum vom Reich Gottes war geplatzt. Ihr Wünsche würden enttäuscht. Warum eigentlich? Ganz einfach und doch so kompliziert auch oft für uns: Wir träumen und wünschen ohne Jesus. Wir hätten gerne, dass er unsere Verhältnisse erweitert und Vorstellungen bestätigt. Es geht aber darum, dass wir in seine Verhältnisse hineinwachsen. Genau dann werden unsere Vorstellungen nämlich übertroffen. Genau dann, wenn wir Jesus begegnen und uns von ihm begleiten lassen, ihm nachfolgen. 

Im selben Atemzug, in dem Jesus seine Leute zurechtweist, öffnet er ihnen aber auch die Tür zu einem weiten Land. 

»Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet allen Menschen die rettende Botschaft. * Wer glaubt und sich taufen lässt, der wird gerettet werden. Wer aber nicht glaubt, der wird verurteilt werden.

(Markus 16,15–16 nach der Bibelübersetzung Hoffnung für Alle)

Es geht hier um Rettung und Befreiung und nicht um Abkapselung. Es geht sogar um mehr. Es geht um Jesus als Retter und Befreier. Darin besteht unser Glaube und daran erinnern wir uns, wenn wir taufen. Jesus ist Sieger. Jesus spricht Dich frei. Lass Dich auf ihn ein. Lass Dich von ihm führen und begleiten. Genau dann passiert das, was Irenäus und Tertullian und viele nach ihnen erlebt haben.

Davon lesen wir in den letzten Versen (Markus 16,17–20 nach der Bibelübersetzung Hoffnung für Alle):

17 Die Glaubenden aber werde ich durch folgende Wunder bestätigen: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben und in unbekannten Sprachen reden. 18 Gefährliche Schlangen und tödliches Gift werden ihnen nicht schaden, und Kranke, denen sie die Hände auflegen, werden gesund.« 

19 Nachdem Jesus, der Herr, das gesagt hatte, wurde er in den Himmel aufgenommen und nahm den Platz an Gottes rechter Seite ein. 20 Die Jünger aber zogen hinaus und verkündeten überall die rettende Botschaft. Der Herr war mit ihnen und bestätigte ihr Wort durch die Zeichen seiner Macht.

Jesus geht zum Vater, begleitet und bestätigt seine Leute aber nach wie vor. Dass Jesus im Himmel ist, schließt nicht aus, dass er uns nicht auch hier begleiten kann. Dass er im Himmel ist, bildet erst die Voraussetzung dafür, dass wir ihn an allen Orten und zu allen Zeiten ganz persönlich erleben können - jeder von uns, Du und ich und auch unser Nachbar, wenn wir ihm nicht nur Gemeinde, sondern auch die Begegnung mit Jesus anbieten. 

Maria aus Magdala war die Erste, die die befreiende Kraft von Jesus erlebt hat. Sie ist auch die Erste, der Jesus nach seiner Auferstehung begegnet. Wie er sie aus Ängsten und Bindungen und unlösbaren Verstrickungen befreit hatte, so holt er sie aus ihrer Trauer raus. Sie dachte, sie hätte Jesus verloren. Dabei war es nur ihr Bild von Jesus. Jetzt lässt sie sich darauf ein, ihr Bild weitermalen zu lassen. Sie zwängt Jesus nicht mehr in ihren Vorstellungsrahmen. Jesus setzt sie in einen neuen Lebensrahmen. 

Ähnlich passiert es mit den anderen zweien, die Jesus aus ihren Gedankengefängnissen befreit. Sie hatten von seinem Tod und seiner Auferstehung gehört. Das hatte ihnen aber nicht weitergeholfen. Sie waren um so verwirrter, weil das alles ja unmöglich war. Deswegen begegnet Jesus ihnen persönlich. Und schließlich bricht er den Unglauben und Starrsinn, das harte Herz der anderen auf. Er reißt Fenster und Türen auf und bringt frische Luft ihn ihr Leben. Diese frische Luft atmen sie ein und wieder aus und wieder ein und wieder aus. Sie behalten das nicht für sich, sondern geben das weiter und erleben, wie dasselbe mit anderen passiert. Menschen werden von Fesseln befreit, von Süchten, von dämonischen Bindungen, von Ideologien und falschen Welt- und Gottesbildern. Sie bringen Heilung zu den Menschen und erleben, dass Jesus sie begleitet, selbst wenn ihnen giftige und bissige Reaktionen erleben müssen. Sie lernen neue Sprachen sprechen, die von Gott kommen und ihn ehren. Sie lernen Unbekanntes kennen, weil sie Jesus nachfolgen. 

Genau auf diese Reise lädt uns Jesus ein und Markus erinnert uns von Anfang bis Ende daran. Dies ist nicht das ende der Guten Nachricht von Jesus, sondern der neue Anfang. Wir dürfen in seinen Verhältnissen leben und uns von seinen befreienden Vorstellungen prägen lassen. 

Das ist sein Angebot. So sieht seine Kirche aus. Jesus in der Mitte.